Samstag, 2. Juli 2011

Mehr Demokratie wagen – Reform des Wahlrechts (Teil 1)

Update: Deutschland hat seit gestern kein verfassungskonformes Wahlrecht mehr. Vor zwei Tagen lief die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte First zur Reform des Wahlrechts ab. Der ehemalige Verfassungsrichter Papier warnt vor einer »schweren Staatskrise«, da nun keine verfassungskonformen Neuwahlen stattfinden können. Die schwarz-gelbe Koalition hat zwar einen ersten Entwurf vorgelegt, der das negative Stimmrecht beseitigen soll, indem die Überhangmandate nicht mehr zwischen den Bundesländern verrechnet werden. Die Verzerrungen durch die Überhangmandate blieben jedoch erhalten, weil vor allem die Union von diesen profitiert. Ein parteiübergreifender Kompromiss, wie bei früheren Wahlrechtsreformen üblich, scheint nicht realistisch.

Das Bundestagswahlrecht »beeinträchtigt die Stimmgleichheit in eklatanter Weise«, urteilte das Bundesverfassungsgericht 2008 und gab dem Gesetzgeber Zeit es bis zum 31. Juli 2011 zu ändern. Momentan gibt es aber noch keinen mehrheitsfähigen Änderungsentwurf. Dieser Post analysiert die Hintergründe zum Wahlrecht und seine möglichen Alternativen.

Das Gericht kritisierte in seinem Urteil das negative Stimmgewicht, das dazu führen kann, dass die WählerInnen mit ihrer Stimmabgabe der gewählten Partei schaden. So kam es bei der Nachwahl zur Bundestagswahl 2005 im Wahlkreis Dresden I zu der paradoxen Situation, dass die CDU ihre AnhängerInnen dazu aufrief, sie nicht mit der Zweitstimme sondern nur mit der Erststimme zu wählen. Dadurch gewann die Union ein zusätzliches Überhangmandat. Dieses Phänomen tritt regelmäßig bei Bundes- und der Mehrheit der Landestagswahlen auf. Weitere Informationen, Details und Beispiele zum negativen Stimmgewicht finden sich im Dossier von wahlrecht.de.

Andreas Lämmel (CDU) gewann das Direktmandat in Dresden I 2005 (Foto von Frank Ossenbrink)
Unterschied zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht
Das deutsche Wahlsystem unterscheidet sich deutlich vom dem in den USA, Großbritannien oder Frankreich. Bei einer Verhältniswahl wie in Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Benelux-Staaten und Skandinavien gilt, dass sich die Verteilung der Sitze im Parlament generell nach der Zahl der Stimmen richtet, die eine Partei erhält. Im Mehrheitswahlrecht ist das Land in so viele Wahlkreise aufgeteilt, wie es Mandate im Parlament gibt. Der/Die Kandidat/in, der/die die meisten Stimmen auf sich vereinigen kann, wird Abgeordnete/r für den Wahlkreis. Dabei ist zwischen relativer und absoluter Mehrheit zu unterscheiden. Bei der zweiten Variante kann es zu einer Stichwahl kommen, wenn keiner der KandidatInnen die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die erste Variante wird vor allem in anglo-amerikanischen Ländern verwendet, die zweite Variante beispielsweise in Frankreich.

Die Mehrheitswahl führt häufig zu eindeutigen Mehrheiten im Parlament, so dass Koalitionsregierungen relativ selten auftreten. In Großbritannien gab es beispielsweise seit dem Zweiten Weltkrieg nur zwei Wahlen, nach denen keine Partei eine absolute Mehrheit im Unterhaus hatte. Die aktuelle Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten ist deshalb eine Ausnahmeerscheinung. Auch ist die Bindung zwischen Abgeordneten und den WählerInnen größer, da sie persönlich und nicht über Listen gewählten wurden.

Der zentrale Vorteil der Verhältniswahl ist hingegen die gerechte Verteilung der Sitze entsprechend der Stimmen. Bei der Bundestagswahl 2009 erhielt die SPD 23 Prozent der Zweitstimmen und hat im Bundestag 23,5 Prozent der Sitze. In Großbritannien kamen die Liberaldemokraten 2010 ebenfalls auf 23 Prozent der Stimmen, erhielten aber nur 8,8 Prozent der Mandate. Die Verzerrung macht deutlich, dass das Mehrheitswahlrecht im Vergleich zur Verhältniswahl die Stimmen verzerrt in Mandate überträgt und somit nicht jede Stimme gleich viel zählt. Aus diesem Grund ist die Verhältniswahl der Mehrheitswahl eindeutig vorzuziehen. Auch in Großbritannien stößt das Mehrheitswahlrecht auf Kritik, auch wenn die Reform des Wahlrechts zu Gunsten einer weniger verzerrenden Form der Mehrheitswahl – dem Alternative Voting oder Instant Runoff Voting – von den WählerInnen klar abgelehnt wurde.

Verzerrung bei der britischen Unterhauswahl 2005
Personalisierte Verhältniswahl in Deutschland
Die Abgeordneten des Bundestages und der meisten Landtage werden durch das System der personalisierten Verhältniswahl gewählt, wobei eine Sperrklausel von fünf Prozent bzw. drei Direktmandaten gilt. Die Sitzverteilung im Parlament richtet sich im Wesentlichen nach dem Anteil der Zweitstimmen. Mit der Erststimme wird der/die Wahlkreisabgeordnete nach relativer Mehrheit bestimmt. Diesem System liegt die Idee zugrunde die Vorteile von Verhältnis- und Mehrheitswahl zu vereinen. Die Zweitstimme stellt die weitestgehend verzerrungsfreie Verteilung der Mandate sicher, während durch die Erststimme eine persönliche Bindung zwischen den WählerInnen und ihrem/ihrer Wahlkreisabgeordneten erreicht werden soll.

Schematischer Ablauf der personalisierten Verhältniswahl (Quelle: Horst Frank)
Zum einen ist die Annahme, dass das Verhältnis zwischen WählerInnen und Wahlkreisabgeordneten enger ist, scheint fragwürdig. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise kennen laut einer Umfrage von polis sinus lediglich 41 Prozent ihre/n Wahlkreisabgeordnete/n im Landtag. Außerdem ändert sich die personelle Zusammensetzung des Parlaments kaum, wenn ein/e andere/r Kandidat/in das Mandat gewinnt. Die meisten DirektkandidatInnen sind über einen vorderen Listenplatz gegen eine Niederlage abgesichert und ziehen in das Parlament ein, egal ob sie die Mehrheit im Wahlkreis erhalten oder nicht. Bei der Bundestagswahl 1998 hätte es lediglich in 18 der 328 Wahlkreise einen Unterschied auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages gemacht, wenn jemand anderes den Wahlkreis gewonnen hätte. Aus diesem Grund kommt wahlrecht.de zu dem Schluss, dass die Erststimme »weitestgehend wirkungslos« und »in aller Regel bedeutungslos« ist. Allerdings gibt es mit Hans-Christian Ströbele von den Grünen ein prominentes Gegenbeispiel. Er hat das Direktmandat im Wahlkreis Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost seit 2002 gewonnen ohne auf der Landesliste abgesichert zu sein.

Hans-Christian Ströbele (Foto von Stefan Pangritz)
Überhangmandate verzerren das Wahlergebnis
Die einzige wirklich bedeutsame Auswirkung der Erststimme liegt in den Überhangmandaten. Diese treten auf, wenn eine Partei mehr Direktmandate über die Erststimme gewinnt, als ihr verhältnismäßig durch die Zweitstimme zustehen würden. Die Partei erhält folglich mehr Sitze, als sie bei aufgrund der Verhältniswahl gewonnen hätte. Dadurch wird das Ergebnis verzerrt. Bei der vergangenen Bundestagswahl konnten die Unionsparteien insgesamt 24 Überhangmandate erringen, während die SPD auf keines kam. Die Union konnte dadurch 38,4 Prozent der Sitze einnehmen, obwohl sie nur auf 33,8 Prozent der Stimmen kam. Gerade bei knappen Wahlausgängen können die Überhangmandate von Bedeutung sein. Es besteht die Gefahr, dass eine Koalition die Regierung bildet, die zwar über mehr Sitze im Bundestag verfügt, aber weniger Stimmen als ein anderes Parteienbündnis erhalten hat. Das Wahlergebnis würde auf den Kopf gestellt. Aus diesem Grund hat der Verein Mehr Demokratie, der sich für direkte Demokratie und stärkere Bürgerbeteiligung einsetzt, eine Kampagne gegen Überhangmandate gestartet.

Reform des Wahlrechts
Aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts sind die Parteien gezwungen das Wahlrecht ohnehin zu ändern. Es gibt mehrere Möglichkeiten das personalisierte Verhältniswahlrecht mit geringfügigen Veränderungen zu erhalten. Doch warum sollte überhaupt die wirkungslose Erststimme beibehalten werden? Mit einem neuen Wahlsystem sollten die Wählerinnen und Wähler wirklich Einfluss auf die personelle Zusammensetzung erhalten und die von den Parteien vorgegebenen starren Listen beeinflussen können. Zwei Wahlsysteme kommen dafür in Frage.

Offene Listen
Die Erststimme wird abgeschafft und die Zusammensetzung richtet sich ausschließlich nach der Anzahl der Stimmen, die eine Partei erhält. Auch die Fünfprozenthürde bleibt erhalten. Allerdings können nun die WählerInnen die Zusammensetzung der Parteilisten verändern. Sie haben mehrere Stimmen und können diese auf die Personen ihrer Wahl auch von verschiedenen Parteien verteilen. In Hamburg beispielsweise konnten die WählerInnen bei der vergangenen Bürgerschaftswahl im Februar bis zu fünf Stimmen abgeben und dadurch die Reihenfolge auf der Liste verändern. Alternativ konnte auch eine Listenstimme vergeben werden, so dass die von der Partei vorgegebene Reihenfolge übernommen wird. Die WählerInnen können so besonders engagierte KandidatInnen belohnen, weniger einsatzfreudige Personen werden abgestraft. Bei Kommunalwahlen in den meisten deutschen Bundesländern und bei Wahlen in Belgien, Luxemburg, Dänemark und der Schweiz kommen offene Listen zur Anwendung. Sie unterscheiden sich beispielsweise bei den Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens.

Stimmzettel zur Bürgerschaftswahl in Bremen am 22. Mai 2011
Übertragbare Einzelstimme
Bei diesem Wahlsystem wird das Bundesgebiet in Wahlkreise eingeteilt und in jedem Wahlkreis stehen mehrere Personen zur Wahl. Dabei vergeben die WählerInnen nicht einfach nur eine Stimme, sondern legen eine Rangfolge zwischen den KandidatInnen fest. Ein/e Kandidat/in muss eine gewisse Anzahl an Stimmen erreichen um gewählt zu werden. Sobald ein/e Kandidat/in diese Quote mit den Erstpräferenzen erreicht hat, werden die überschüssigen Stimmen entsprechend der Zweitpräferenzen an die übrigen KandidatInnen verteilt. Wenn danach ein/e Kandidat/in die Quote erreicht hat, ist auch er/sie gewählt und die Stimmen werden nach der Drittpräferenz verteilt. Dieses Verfahren setzt sich solange fort, bis alle Sitze im Wahlkreis vergeben sind oder keiner die notwendige Quote erreicht. Dann werden die Stimmen der/des letztplatzierten /Kandidatin/Kandidaten umverteilt, bis alle Sitze vergeben sind. Das Prinzip wird bei Wahlen in Australien, Irland, Nordirland und Island verwendet. Diese Animation illustriert das Verfahren sehr gut. Insgesamt führt dieses Wahlsystem zu Proportionalität und die WählerInnen können die personelle Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen. Über die Anzahl der zu vergebenden Sitze im Wahlkreis kann auch die Sperrklausel gesteuert werden.

Musterstimmzettel mit übertragbarer Einzelstimme für das Oberhaus im australischen Bundesstaat Victoria
Es gibt Alternativen zum aktuellen Wahlsystem, die den WählerInnen mehr demokratische Mitbestimmung ermöglichen. Wenn der Gesetzgeber das Wahlrecht reformiert, dann sollte er den Bürgerinnen und Bürgern mehr Möglichkeiten zur Einflussnahme einräumen und dadurch mehr Demokratie wagen. Auch die Parteien sollten bereit sein einen Teil ihrer Macht an die BürgerInnen abzugeben. Im nächsten Teil der Serie befasse ich mich deshalb mit der innerparteilichen Demokratie und Beteiligung.