Dienstag, 24. Mai 2011

Mehr Demokratie in den Parteien wagen (Teil 2)

Update: Die Generalsekretärin der SPD, Andrea Nahles, hat heute in der Süddeutschen Zeitung verkündet, dass der/die KanzlerkandidatIn, KandidatInnen für den Bundes- und Landtag sowie Landräte auch durch Nicht-Mitglieder per Urwahl bestimmt werden sollen. Auch kann sich Nahles vorstellen, die Parteimitglieder über wichtige Sachfragen abstimmen zu lassen. Das Ganze geht in die richtige Richtung, vielleicht hat da ja jemand meinen Post gelesen. ;-)

Merkel und Stoiber machten die Kanzlerkandidatur unter vier Augen beim Frühstück in Wolfratshausen aus. Vor Kurzem verkündete Peer Steinbrück, dass er sich wegen seiner eventuellen Kandidatur »mit zwei oder drei Führungspersönlichkeiten der SPD zusammensetze«. Diese Hinterzimmerdeals machen deutlich, dass die Parteimitglieder kaum Mitspracherechte bei wichtigen Fragen haben. Heute analysiere ich deshalb, wie man mit mehr Mitbestimmung der Parteienverdrossenheit begegnen kann.

Seit Anfang der 1990er ist die Zahl der Parteimitglieder in Deutschland rapide gesunken. Während die sechs im Bundestag vertretenen Parteien 1990 noch 2,3 Millionen Mitglieder zählten, verloren sie bis 2008 mehr als 900.000 Anhänger mit Parteibuch. Dieser langfristige Trend zieht sich durch alle Parteien.

Mitgliedszahlen der sechs großen Parteien seit 1946

Massiver Zustrom bei NGOs und Bürgerinitiativen
Diesem dramatischen Rückgang steht ein rasanter Anstieg der politischen Beteiligung außerhalb von Parteien entgegen. Immer mehr BürgerInnen engagieren sich in Bürgerinitiativen, bei NGOs und Demonstrationen. Das prominenteste Beispiel dafür sind die Demonstrationen gegen das Bauvorhaben Stuttgart 21, gegen das über Monate hinweg tausende von Menschen protestierten. Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte im vergangenen Jahr die umstrittene Bezeichnung »Wutbürger« für die TeilnehmerInnen zum Wort des Jahres. Andere Beispiele sind Initiativen gegen den Bau von Kohlekraftwerken wie Kohlefreies Mainz oder die Initiative FREIe HEIDe gegen das »Bombodrom« in Nordbrandenburg.

Die Entwicklung der Mitglieder- und Fördererzahlen bei großen NGOs verdeutlicht diesen Trend. Greenpeace Deutschland konnte von 2003 bis 2011 insgesamt 1400 neue AktivistInnen gewinnen. Ein Zuwachs von fast 60 Prozent. Ebenso traten der globalisierungskritischen Organisation attac seit ihrer Gründung in Deutschland 2000 bis heute knapp 25.000 Mitglieder bei. Einen ähnlich rasanten Ansturm erlebt die Kampagnenplattform Campact, die 2004 ins Leben gerufen wurde. Innerhalb von sieben Jahren registrierten sich fast eine halbe Million Mitglieder auf der Internetseite und nahmen an den Aktionen der NGO teil. Diese fast kontinuierlichen Zuwächsen, die rege Teilnahme an Demonstrationen und das politische Engagement zeigen, dass das politische Interesse der Bevölkerung ungebrochen ist. Allerdings profitieren die Parteien so gut wie gar nicht von dieser Entwicklung. Gründe dafür gibt viele: Gebrochene Wahlversprechen und Skandale, aber auch mangelnde Offenheit und Mitbestimmungsmöglichkeiten führen dazu, dass sich vor allem junge Menschen immer mehr von den Parteien abwenden.

Aktion von Campact gegen Stuttgart 21 (Foto: campact)

Mehr Offenheit und Mitbestimmung in Parteien
Wenn die Parteien bei der »politischen Willensbildung des Volkes« mitwirken wollen, wie es das Grundgesetz vorsieht, dann ist es dringend notwendig, dass sie sich öffnen. Sie sollten Mitgliedern, aber auch Nicht-Mitgliedern mehr Möglichkeiten einräumen sich einzubringen und mitzubestimmen. Dies kann an zwei zentralen Punkten ansetzen: Inhalte und Personen.

Vor Wahlen ist es üblich, dass die Parteien ein Wahlprogramm veröffentlichen. Für gewöhnlich erarbeitet der Parteivorstand dieses Programm und auf einem Parteitag verabschieden es die Delegierten häufig mit großer Mehrheit, auch wenn es an gewissen Stellen im Programm zu Änderungen kommen kann. Einen anderen Ansatz wählt beispielsweise die Piratenpartei. Dort diskutieren Mitglieder, aber auch interessierte Nicht-Mitglieder, im sogenannten Piratenwiki über Inhalte und organisieren sich über das Piratenpad. Mitglieder und Außenstehende werden dadurch eingeladen sich einzubringen und die Partei profitiert durch das zusätzliche Wissen. Die Hürden für den Einstieg sind wesentlich geringer als bei anderen Parteien, wobei die Grünen vor der diesjährigen Landtagswahl in Rheinland-Pfalz auch ein Wiki einsetzten um die Mitarbeit am Wahlprogramm zu erleichtern. Mit der freien Software LiquidFeedback steht ein weiteres technisches Mittel zur Verfügung, das die Teilnahme und Mitarbeit vereinfacht. Durch das Internet und die verschiedenen Programme lässt sich eine basisdemokratische Mitbestimmung in solch mittel- und langfristig planbaren Fällen praktikabel realisieren. Der Piratenpartei sind seit ihrer Gründung im Jahr 2006 über 11.000 BürgerInnen beigetreten, was zeigt, dass diese Offenheit und Transparenz ein Weg ist politisch interessierte Menschen zum Engagement in Parteien zu motivieren.

Screenshot einer Initiative im Programm LiquidFeedback

Vorwahlen vor wichtigen Personalentscheidungen
Neben den Inhalten sind die Köpfe einer Partei von ähnlich wichtiger Bedeutung, denn die Inhalte müssen transportiert, verkauft und repräsentiert werden. Doch meist geschehen Personalentscheidungen auf Bundes- und Landesebene unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne wirkliche Aussprache mit den Parteimitgliedern. Ein gutes Beispiel dafür war die Personalrochade der FDP in der vergangenen Woche, die auf mehreren nicht-öffentlichen Sitzungen beschlossen und dann vom Bundesparteitag abgenickt wurde. Bei den anderen großen Parteien sieht das nicht anders aus. Die Harmonie soll betont werden und Wahlen mit mehreren KandidatInnen, wie in Demokratien normalerweise üblich, werden negativ als Kampfkandidaturen bezeichnet. Das muss nicht sein! Kanzler-, MinisterpräsidentenkandidatInnen und Vorsitzende der Parteien können durch offene oder geschlossene Vorwahlen bestimmt werden. Dadurch ist die Legitimation und Anerkennung der/des KandidatIn größer, da er/sie sich bereits in einem innerparteilichen Wahlkampf durchsetzen konnte. Außerdem gibt es den BürgerInnen besonders bei offenen Vorwahlen mehr Möglichkeiten am politischen Prozess teilzunehmen und mitzubestimmen. In den USA sind Vorwahlen seit den 1970ern nicht mehr wegzudenken. Die PräsidentschaftskandidatInnen von Demokraten und Republikanern kämpfen in allen 50 Bundesstaaten um die Gunst der WählerInnen, die so aktiv an der Auswahl teilnehmen können. In Europa sind Vorwahlen hingegen die Ausnahme. In Italien gewann Romano Prodi 2006 die Vorwahlen des linken Bündnisses L'Unione gegen sechs andere KandidatInnen und später auch die Parlamentswahlen gegen Berlusconi. Allerdings zerbrach seine Regierung nach zwei Jahren wieder. Auch der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Walter Veltroni, wurde 2007 in einer offenen Wahl, bei der alle wahlberechtigten BürgerInnen teilnehmen konnten, direkt gewählt. Die Sozialistische Partei in Frankreich wird im Oktober dieses Jahres den/die Herausforderer/in von Sarkozy ebenfalls per offener Vorwahl bestimmen.

Vorsitzender der Demokratischen Partei Walter Veltroni (Foto von Iaconianni family)

Hier könnte die SPD für die kommende Wahl mit gutem Beispiel vorangehen. Anstatt wie in der Vergangenheit die sogenannte K-Frage im Vorstand auszumachen, sollten die Parteimitglieder oder alle Wahlberechtigten über den/die KanzlerkandidatIn entscheiden. Gabriel hat ja bereits viele potentielle Namen genannt, die dann in einer Vorwahl antreten könnten. Das wäre ein Schritt in die Erneuerung, die die SozialdemokratInnen seit der Wahlschlappe suchen und auch eine Möglichkeit in die Partei hineinzuhorchen.

Moderne Parteien für das 21. Jahrhundert
Die offene inhaltliche Mitarbeit und die Mitbestimmung durch Vorwahlen könnten ein Schritt der Parteien sein, das verlorene Vertrauen der BürgerInnen zurückzugewinnen. Dies kann nur erreicht werden, indem man ihnen zuhört. Genau daran fehlt es aber in vielen Parteien. Mit einer größeren Offenheit, Teilhabe und mehr Demokratie können die Parteien den notwendigen Schritt machen. Die technischen und rechtlichen Möglichkeiten sind dafür gegeben. Jetzt fehlt es nur noch an politischem Willen und Mut.